Paula Balov

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Kopf über Hals

Ich schaue sie an, sie mit ihrem Medizinballkopf und dann dieser dünne Hals. Ganz zerbrechlich wirkt er. Ich hab Angst, er könne umknicken, wie ein spröder Ast. Ich will schon rüber gehen und ihr den Kopf halten, doch ich trau mich nicht. Der Bus fährt eine Kurve und ihr Kopf schaukelt hin und her. Langes Haar zieht ihn runter, doch sie hält dagegen. Ich hab Angst, die Sitzlehne könne gegen ihren Hals knallen und ihr das Genick brechen.

Ich nehme meine Hände und umschließe meinen Hals. Ganz dünn ist er, im Verhältnis zu meinen Schultern. Vorne, wo die Stimme ist, schmerzt es ein wenig, wenn ich dagegen drücke. Am Nacken ist er stabiler. Der Bus beginnt zu ruckeln und im Augenwinkel sehe ich meine Sitzlehne. Schweiß rinnt mir von der Stirn. Der Bus bleibt stehen. Als ich mich umblicke, bemerke ich die anderen Fahrgäste. Sie haben alle einen dünnen Hals! Sie hocken seelenruhig auf ihren Sitzen, mit ihren Alditüten und Kindern auf dem Schoß, ihre Hälse liegen frei, manchmal gerade noch von einem feinen Schal umschlossen, und sie wissen nicht, dass sie sich in Lebensgefahr befinden. Die zarten Kinderhälse, auch die liegen frei. Eine bloße Hand könnte sie erwürgen, ein falsches Hinfallen und das Leben ist dahin. Was Kopf und Körper verbindet ist ein seidener Faden! Diese Menschen! Tragen ihre Portemonnaies ganz nah bei sich, damit sie keiner stiehlt, aber lassen ihre Hälse frei, damit sie jeder töten kann.

Ich fahre mit den Fingern am Kehlkopf entlang. Seitdem ich lebe liegt er schon schutzlos am Hals, ganz nah unter der Haut. Meine Haut fühlt sich wie Marzipan an, weich und nachgiebig. Plötzlich bin ich von ganzem Herzen dankbar so viele Jahre ohne Schutz überlebt zu haben. Gott sei dank haben mich die Rasierklingen nicht zerschnitten, Gott sei dank die Liebhaber nicht zerbissen. Ich kann mir nicht vorstellen, je einen Menschen mit den Zähnen oder spitzen Fingernägeln an meinen Hals gelassen zu haben, doch ich weiß, dass es so war. Ich spüre, wie mir das Blut in die Beine schießt. Mir fällt wieder ein, dass ich vor langer Zeit bei der Akupunktur war und mir sogar Nadeln in der Kehle steckten. Ich muss laut lachen. Das Mädchen mit dem Medizinballkopf schaut zu mir rüber und will aussteigen. Ich muss sie warnen, denke ich. Ich lege Worte zurecht, doch sie fallen mir aus dem Mund. Köpfe verdrehen sich nach mir.
Wenn sich einer das Genick bricht, überlege ich, werden die Leute vielleicht aufmerksamer. Ich schaue mich nach potentiellen Todesfallen um. Die Stangen zum Festhalten, die in Hüfthöhe angebracht sind. Wenn das Mädchen mit dem Nacken dagegen fällt, ist sie entweder mausetot oder querschnittsgelähmt.
Ich zeige auf die Stange. Aus meinem Mund dröhnt eine Stimme und spricht gebrochen. Ein besorgter Blick streift mich. Mir fällt ein, manchmal verlieren Menschen die Sprache nach einem Schlaganfall oder wenn die Stimmbänder kaputt gehen. Ich schaue zu der älteren Frau mit Kopftuch, die sich gerade die Fingernägel schneidet. Das Mädchen muss nur nach vorne fallen, um sich die Stimme von der Nagelschere zerstechen zu lassen. Der Bus hält, das Medizinballmädchen hat überlebt und steigt aus. Ich schaue ihr noch kurz hinterher. Wie viel Glück sie hat, denke ich und umschließe meinen verschwitzten Hals. Nichts wünsch ich mir sehnlicher als eine Halskrause.

Ich bemerke, dass ich an meiner Station angekommen bin. Ich will aufstehen. Der Bus ruckelt und poltert und fährt Kurven, die Menschen schwanken hin und her, ein Mann mit Hut stolpert fast. Vor meinen Augen pulsieren die Stangen in Hüfthöhe und die kantigen Stuhllehnen und auch die Nagelschere in den Händen der Frau. Bei der nächsten Station versuch ich's noch mal, denke ich, doch mein Körper ist wie einbetoniert. Nach und nach steigen alle Fahrgäste aus und überleben und gehen nach Hause mit ihren Kindern und Alditüten, als seien sie nie in Gefahr gewesen. Ein Mann mit blauer Jacke kommt auf mich zu. Dies sei die Endstation, ich müsse aussteigen. Ich ziehe die Schultern in den Nacken. Meine Stimme erklärt ihm, ich will noch nicht sterben. Aus seinem schnurbärtigen Mund kommen Silben raus. Ich weiß, dass ich sie kenne, sie müssen Deutsch sein und kurze Sätze bilden, mit Ausrufezeichen am Ende. Ich lausche dem Klang, die Sätze sind stakkatoartig und im Viervierteltakt. Ich stampfe zum Rhythmus und höre mich singen: Ich will noch nicht sterben, ich will noch nicht sterben. Später klaut er mein Portemonnaie und mein Handy. Aber meinen Hals kriegst du nicht, denke ich.

Er telefoniert und schaut lange meinen Perso an. Es kommen mehr blaue Jacken zu uns rein und eine Ärztin, die es besser wissen müsste, aber auch keinen Halsschutz trägt. Sie alle sind da, mit ihren dünnen, nackten Hälsen, die jederzeit umknicken könnten. Meine Schwester, auch die kommt. Sie kommt auf mich zu, mit dahinfließenden Sätzen, die mich an eine Querflöte erinnern. Die Melodie ballt sich in meinem Ohr, als sie mich mit den Armen umschließt.
„S tobom sam,“ summt sie und wippt ein wenig. „S tobom sam, s tobom sam!“
Sie nimmt meine Hand und drückt sie sanft, drei mal. Sie atmet lange ein und wir aus, drei mal und dann wieder. Und wieder. „Danke,“ sage ich.

Paula Balov, 2017

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